Editorial: Sauber wie ein Milchmann

14.9.2018

SAUBER WIE EIN MILCHMANN

Die heutigen Elektro-Transporter sind keine echte Innovation, sondern die Weiterentwicklung von Bewährtem.

Sauber wie ein Milchmann
© Jake Eastham

 

Früher gehörten sie in Großbritannien zum Straßenbild wie die roten Telefonhäuschen, heute sieht man sie nur noch selten: die elektrisch angetriebenen Transporter der Milchmänner, auch Milk Float genannt. Sie fahren fast lautlos und abgasfrei von Tür zu Tür. So gesehen sind die Elektro-Transporter, die heute als Streetscooter, VW e-Crafter oder Nissan E-NV immer häufiger die Pakete von Amazon und Co bringen, keine echte Innovation, sondern die Weiterentwicklung von Bewährtem. Deswegen ist es kein Zufall, dass der deutsche Elektrotransporter-Pionier Streetscooter britische Milchlieferanten motorisiert (Foto).

Wie sich früher fast jeder Haushalt im Vereinigten Königreich täglich die Milch bringen ließ, ist heute die Paketzustellung alltäglich geworden. 2010 wurden in Deutschland durchschnittlich 23 Pakete pro Haushalt und Jahr zugestellt. Seither hat sich diese Zahl verdoppelt. Fast jede Woche ein Paket in jeden Haushalt – der Internethandel lässt die Logistikbranche boomen. Allerdings verursacht er auch enorme Probleme. Transporter, meist mit Dieselmotor, machen in manchen Regionen bis zu 75 Prozent des urbanen Verkehrs aus. Und weil Pakete oftmals erst nach dem zweiten oder dritten Anlauf beim Kunden zugestellt werden können, müssen intelligente Lösungen her, wenn die Städte nicht im Lieferverkehr ersticken sollen.

Solche Lösungen sind nicht nur elektrisiert, sondern vor allem intelligent: Volkswagen und Schaeffler sind unabhängig voneinander zu ähnlichen Lösungen gekommen. Autonom fahrende Transporter mit Paketstationen auf einem universal einsetzbaren Chassis bringen die Sendungen in die Stadtteile, wo sie von den Empfängern abgeholt werden können. Dies scheint doch ein sehr viel sinnvolleres Modell zu sein, als die fliegende Paket-Drohne von Amazon. Denn der Luftraum wird für andere Mobilitätslösungen gebraucht: das Lufttaxi, an dem die Automobilindustrie fieberhaft arbeitet.

Guido-Reinking beobachtet die Automobilindustrie

Guido Reinking beobachtet die Automobilindustrie seit 20 Jahren – unter anderem für „Welt am Sonntag“, „Financial Times Deutschland“, „Automobilwoche“ und „Capital“.

Geht es um die Reduzierung von Emissionen – ob Feinstaub, Stickoxyde oder CO2 – ist der Elektroantrieb derzeit das Mittel der Wahl. Dabei steht die Automobilindustrie vor einem Dilemma: Die Kunden wollen nicht so recht. Die beschränkte Reichweite, lange Ladezeiten und das löchrige Lade-Netz erwecken wenig Vertrauen in die Alltagstauglichkeit der Elektromobile. Doch das wird sich bald ändern: Ionity knüpft ein Netz an Ladestationen an Europas Fernstraßen, das kaum Wünsche offen lässt. Gleichzeitig hat Harting eine Technologie entwickelt, die Ladezeiten auf das Niveau klassischer Tankvorgänge reduziert. Elektroautos sind nicht alltagstauglich? Das ist bald nur noch eine Ausrede.

Dennoch sollte der Verbrennungsmotor nicht vergessen werden. Denn für schwere Lkw gibt es derzeit kaum Alternativen. Außerdem kann sich nicht jeder sofort ein Elektroauto leisten. Das Durchschnittsfahrzeug auf deutschen Straßen ist fast zehn Jahre alt. Es wird also lange dauern, bis sich der Fahrzeugbestand erneuert hat. Auch deshalb plädieren Shell und Schaeffler für alternative Kraftstoffe, die in herkömmlichen Motoren für weniger Schadstoffe in der Luft sorgen. Elektroautos und solche mit Verbrenner wird es noch lange parallel geben. Besser, wir richten uns darauf ein.

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