10 Erfahrungsbericht: Wie es sich anfühlt, elektrisch unterwegs zu sein Jetzt kommt die Elektromobilität 2.0 D ie Frage, die Passanten stets stellen, wenn sie mich am BMW i3 sehen: Wie weit fährt denn der? Keiner inte- ressiert sich – was früher ja durchaus üblich war – für Motorleistung, Beschleunigung oder Höchstgeschwindigkeit. Nein, die Reichwei- te ist beim Elektroauto zum Maß aller Dinge geworden. Daraus ablesen lässt sich zudem, wie tief die Angst beim Autofahrer sitzt, mit leerem Akku liegenzubleiben. Es wundert also nicht wirklich, dass es die E-Mobilität schwer hat, wenn Elektroautos nach 120 bis 150 Kilometern an die Ladesäu- le müssen und im Winter nicht einmal 100 Kilometer schaffen, weil die Heizung an der Kapazität der Batterie zehrt. Eine Ausnahme mag Tesla sein, der Reichweiten von über 400 Kilometern schafft. Doch die kalifornischen Luxuslimousine schleppt bis zu 90 kWh große und über 500 Kilogramm schwere Akkus mit sich herum und kostet über 100.000 Euro. Was zur E-Mobilitäts-Hürde Nummer zwei führt: dem Kaufpreis. Mein i3 kostete mit den wichtigsten Extras knapp 45.000 Euro. Ein e-Golf oder eine Mercedes B-Klasse electric drive ist mit gleicher Ausstattung nicht viel günstiger. Für die Hälfte dieser Summe gibt es vergleichbare Benziner. REICHWEITE VERDOPPELT Noch braucht es also eine gehörige Por- tion Idealismus, ein Elektroauto zu kaufen. Den Mehrpreis durch die ge- ringeren Fahrkosten wieder einzuspielen dauert gefühlt ewig. Belohnt wird die teure Anschaffung mit einem schö- nen und entspannten Fahrge- fühl, denn kein Motor eignet sich für den urbanen Verkehr besser als ein elektrischer. Leise, antrittsstark, emissions- frei und dennoch voller Emo- tionen. Zudem verschleißt ein E-Auto kaum. Wer voraus- schauend fährt, belastet nicht einmal die Bremse. Der BMW i3. Es war ein gewaltiger Sprung, zu dem die Bayern da vor fast neun Jah- ren mit dem „project i“ ange- setzt haben. Einen fortschrittlicheren Kom- paktwagen konnte man Ende 2013 nicht kaufen. Die Branche ist aufgewacht und merkt jetzt, dass ohne elektrifizierte Antriebe die europäischen CO2-Vorgaben ab 2021 (95 Gramm) nicht zu schaffen sind, ganz zu schweigen vom Image-Verlust. Volkswagen hat in diesem Jahr den e-Golf einem Update unterzogen und ihm 300 Kilometer (NEFZ- Wert) Reichweite spendiert. BMW zog mit dem i3 auf gleichem Niveau nach, bietet so- gar für ältere Modelle einen Austausch der Batterie an. In den Startlöchern steht bereits Generation 2.0 der Elektroau- tos. Die Reichweite wird sich gegenüber älteren Modellen nahezu verdoppeln. Dies macht die Stromer erstmals zum möglichen Alleinfahr- zeug im Haushalt, wie der Preis-Leistungs-König Opel Ampera-e zeigt. Dessen größ- ter Nachteil: Die Rüsselshei- mer können nicht genügend Exemplare liefern. Ähnlich dürfte es bei Tesla mit dem Model 3 gehen. Mehr als eine halbe Million Bestellungen sollen vorliegen. Es wird Jahre dauern, bis die- se Anzahl an Fahrzeugen pro- duziert ist. Der Leaf – mit über 270.000 Einheiten weltweit meistverkauftes Elektroauto – er- hält Anfang 2018 seinen Nachfolger. Die Japaner versprechen 500 Kilometer Reich- weite. Gleiches gilt für die Premium-Liga. Hier startet schon im ersten Halbjahr 2018 Jaguar mit dem I-Pace, der ebenfalls 500 Ki- lometer schaffen soll. Mercedes mit der EQ- Familie, Audi mit dem e-tron und Porsche mit dem Mission E werden folgen. Die Mo- nopolstellung von Tesla ist damit gebro- chen. Selbst Bentley und Rolls-Royce berei- ten Elektroversionen vor. NEUE GELASSENHEIT Volkswagen will 2020 mit der Elektro- Baureihe I.D. loslegen. Reichweite? 500 plus. Da ist es nur eine Frage der Zeit, bis auch die Töchter Audi, Seat und Skoda mit I.D.-Derivaten auf den Markt kommen. BMW hingegen hat leider der Mut verlas- sen. Jahrelang passierte nach dem i3 nichts mehr. Erst 2021 wollen die Bayern mit dem BMW iNEXT ihre nächste Elektro-Generati- on einleiten. Dreieinhalb Jahre im BMW i3 haben aus mir einen anderen Autofahrer gemacht. Ruhe und Gelassenheit gehen vor Power und Performance. Auch wirken Autos mit Verbrennungsmotoren plötzlich ungemein rückständig auf mich, passen nicht mehr zur Mobilität von Morgen. Michael Specht MICHAEL SPECHT, 60, ist Maschinenbau- Ingenieur und einer der profiliertesten Autoren für Auto- und Mobilitäts- themen. Es ist Mitglied der „Car of the year“-Jury. >> MOBILITÄT VON MORGEN · VERNETZT - NACHHALTIG - AUTONOM