Michelin erfindet das Rad neu

9.9.2019

Michelin erfindet das Rad neu

„Nachhaltige Mobilität ist Teil unserer DNA“

 

Welche Reifen brauchen Elektroautos? Wie kann ein Reifenhersteller die Umwelt schonen und Abfall vermeiden? Und wie besteht er im Wettbewerb um die besten Köpfe? Anish K. Taneja, Chef der Michelin Region Europa Nord, sagt im Interview, wie sich das Unternehmen auf die Mobilität von Morgen vorbereitet.

 

Anish K. Taneja, President Michelin Europe North

Herr Taneja, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Disruption sind die bestimmenden Themen in der Debatte, wie wir künftig mobil sein wollen. Wie kann Michelin diese Themen adressieren?
Das sind für Michelin keine neuen Themen. Nachhaltigkeit liegt in der DNA von Michelin. Das begann Anfang der 1950er-Jahre mit dem Radialreifen, über rollwiderstandsoptimierte Reifen in den 1990ern und immer besser werdenden Laufleistungen und mündet derzeit in unserer Strategie der Long Lasting Performance. Sie ermöglicht es unseren Kunden, Reifen von Michelin bis zur gesetzlichen Mindestprofiltiefe zu fahren und trotzdem sicher unterwegs zu sein. Daran anknüpfend bieten wir mit den Systemen Track Connect für sportliche Fahrzeuge und Effi-Trailer für LKW-Anhänger Applikationen, die den Reifen für den optimalen Betriebszustand dauerhaft überwachen. Heute verändert die Digitalisierung zunehmend und in rasanter Weise Arbeitsplätze, Produktionsverfahren, Vertrieb und Logistik, aber auch die Produkte selbst. Change und Change Management gehören zu unserem täglichen Geschäft. Wir sind uns sicher, dass sich die Mobilität in den nächsten fünf Jahren stärker verändern wird als in den vergangenen fünfzig Jahren.

Sie stehen nicht nur im Wettbewerb um die Kunden, sondern auch um die besten Köpfe und Ideen: Was bietet Michelin Berufseinsteigern für Möglichkeiten?
Michelin selbst und natürlich auch die Region Europe North ist ein attraktiver Arbeitgeber mit einer klaren Vision. Als weltweiter Hersteller von Premiumreifen mit Niederlassungen in 170 Ländern und als Partner zahlreicher Unternehmen, die die Mobilität der Zukunft mitgestalten, bieten wir unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern super Entwicklungschancen und Möglichkeiten der Weiterbildung. Bei uns ist es zudem heute schon üblich, dass sich Mitarbeiter oder Mitarbeiterinnen, die Teilzeit arbeiten, eine Stelle teilen. Oder was die Selbstbestimmtheit angeht: Jeder Mitarbeiter hat fünf Ziele, an denen er in einem bestimmten Zeitraum arbeitet. Zwei dieser Ziele kann er selbst definieren. 20 Prozent seiner Arbeitszeit darf er für ein selbstentwickeltes Projekt verwenden. Darüber hinaus bieten wir durch unsere neue Plattform der Region Europe North in The Squaire ein hochmodernes und optimal vernetztes Arbeitsumfeld am Verkehrsknotenpunkt Frankfurt am Main.

Berufseinsteiger mit Potential fragen heute nicht nur nach dem Gehalt, sondern auch nach dem tieferen Sinn ihrer Aufgabe, nach der Vision des Unternehmens. Was ist Ihre?
Michelin steht für nachhaltige Mobilität und ist fokussiert auf Customer Centricity, Employee Satisfaction und Profitable Growth. Das sind die Säulen auf denen auch die Michelin Region Europe North basiert. Wir stellen nicht nur Reifen her, sondern entwickeln Produkte und Services für die nachhaltige Mobilität der Zukunft. Mobilität umweltverträglich zu gestalten ist ein wesentlicher Bestandteil der DNA von Michelin. Das unterstreichen wir auch mit zahlreichen Partnerschaften, wie mit dem WWF zur Förderung einer nachhaltigen Naturkautschukproduktion sowie in den Bereichen alternative Kraftstoffe oder der Verwendung von Biomasse in der Reifenproduktion. Wer bei Michelin arbeitet, gestaltet die nachhaltige Mobilität der Zukunft mit.

Dem Elektroauto scheint die Zukunft zu gehören. Brauchen neue Antriebskonzepte auch neue Reifen?
Nicht unbedingt, da die Reichweite die Hauptsorge von BEV-Designern darstellt, sind unsere sogenannten „Tall and Narrow“-Reifen eine gute Lösung, um sowohl den aerodynamischen Luftwiderstand durch geringere Breite zu reduzieren als auch durch eine größere Dimension den Rollwiderstand zu optimieren. Ein zweiter wichtiger Punkt hängt mit dem Gewicht der E-Fahrzeuge zusammen. Die für eine ausreichende Reichweite notwendige Batteriegröße trägt entscheidend zum Fahrzeuggewicht bei. Das erfordert Reifen, die für ein größeres Gewicht ausgelegt sind, beziehungsweise einfach im Durchmesser größere Reifen.

Elektroautos sind wegen ihrer Batterie schwerer. Gleichzeit ist ein niedriger Rollwiderstand wichtig, um die Reichweite zu verlängern. Wie lösen Sie diesen Konflikt?
Es gibt keinen neuen Designkonflikt per se. Technisch gesehen, liegt die Herausforderung auch bei Reifen für Elektrofahrzeuge bei der Geräuschentwicklung, der Reichweite, dem Drehmoment und dem Gewicht des Fahrzeugs. Um den Rollwiderstand zu reduzieren und die Reichweite im Sinne der Kunden zu vergrößern, konzentrieren wir uns auf das Material, das für die Lauffläche verwendet wird, auf die Profilgestaltung mit 3-D-Lamellen und selbst mit der Karkasse, um den Luftwiderstand zu reduzieren.

Elektroautos haben kaum Motorengeräusche, aber weiter ein Abrollgeräusch. Müssen die Reifen leiser werden?
Mangels Motorenlärm ist die Herausforderung, die Abrollgeräusche zu reduzieren, besonders groß. In enger Zusammenarbeit mit den Fahrzeugherstellern entwickeln wir Technologien, um die Geräuschpegel zu reduzieren. Dabei kann ein spezielles Profildesign oder unsere Michelin „Acoustic“-Technologie verwendet werden, um Geräusche zu reduzieren.

Mit dem Uptis (Unique Punctureproof Tire System) hat Michelin ein revolutionäres Rad-Reifen-Konzept vorgestellt. Es kommt ohne Luft aus. © Michelin

Michelin propagiert, Reifen bis an die gesetzlich vorgeschriebene Verschleißgrenze von 1,6 Millimetern zu fahren, und nicht schon früher zu wechseln. Sind so weit gefahrene Reifen wirklich sicher?
Die immer noch gängige Praxis, Reifen bei 3 Millimeter Restprofil zu tauschen, anstatt sie bis 1,6 Millimeter zu fahren, verursacht jedes Jahr einen Reifenberg von 128 Millionen Reifen. 128 Millionen Reifen, die – allein in Europa – vor Erreichen der gesetzlichen Mindestprofiltiefe entsorgt werden. Michelin hat es sich zur Aufgabe gemacht, Reifen zu entwickeln, die bis zur gesetzlichen Mindestprofiltiefe sicher sind. Und wir sind nicht allein. Derzeit untersucht die UN ob Zulassungstests für Reifen auch mit gefahrenen Reifen durchgeführt werden sollen.

Schaden Sie damit nicht Ihrem eigenen Geschäft? Es ist doch im Interesse von Michelin, wenn Kunden häufiger neue Reifen kaufen.
Michelin agiert seit je her als Mobilitätsanbieter und setzt sich sehr langfristige Ziele. Auch in der Vergangenheit waren wir Vorreiter: Nehmen wir als prominentes Beispiel den Radialreifen, den wir 1952 erstmals in Serie brachten. Dieser Reifen verdoppelte die bis dahin möglichen Laufleistungen und senkte die Häufigkeit von Reifenpannen erheblich. Und diese Technik hat sich heute in nahezu allen Reifenkonstruktionen durchgesetzt. Wir sind sicher, dass sich unsere derzeitigen Bestrebungen zum Thema Long Lasting Performance langfristig auch durchsetzen werden, denn unsere Gesellschaft wird sich der Bedeutung von nachhaltiger Mobilität immer bewusster und fordert diese auch ein.

Natürliche Ressourcen zu schonen muss schon bei der Produktion beginnen. Welche Möglichkeiten sehen Sie da?
Tatsächlich hat die Produktion nicht den größten Einfluss auf den ökologischen Fußabdruck eines Reifens. 92 Prozent aller CO2-Emissionen, die dem Reifen zugeschrieben werden können, werden während der Nutzungsdauer ausgestoßen, sind damit auch abhängig vom Verhalten des Fahrers mit Blick auf eine regelmäßige Reifendruckkontrolle oder vom Fahrstil an sich. Zur weiteren Verkleinerung des ökologischen Fußabdrucks des Reifens ist das Thema Kreislaufwirtschaft essentieller Bestandteil unserer Produktion. Hier setzen wir neben dem Recycling und der Erneuerung von Reifen auch auf den Einsatz von natürlichen Produkten, wie Sonnenblumenöl für die Gummimischung und Herstellung von synthetischem Kautschuk aus Biomasse. Mit dem WWF haben wir mehrere Initiativen zur Förderung des sozial- und umweltverträglichen Anbaus von Naturkautschuk gestartet.

Mit dem Uptis (Unique Punctureproof Tire System) hat Michelin ein Rad-Reifen-Konzept vorgestellt, das ohne Luft auskommt. Wo sind die Vorteile?
Jährlich müssen gut 200 Millionen Reifen zu früh entsorgt werden, da sie durch eine Reifenpanne irreparabel beschädigt werden oder durch einen falschen Luftdruck vorzeitig verschleißen. Der seriennahe, luftlose Konzeptreifen vereint nahezu unfehlbaren Pannenschutz mit hervorragenden Fahreigenschaften und der markentypischen Energieeffizienz auf höchstem Niveau. Da der Uptis völlig ohne Luftdruck auskommt, ist er pannensicherer als konventionelle Reifen und bietet dadurch ein besonders hohes Maß an Mobilität und Zuverlässigkeit. Nach der schnellen und einfachen Montage ist zudem keine weitere Luftdruckkontrolle notwendig, was den Reifen praktisch wartungsfrei macht. Er ist energieeffizient und bringt hohe Umweltvorteile mit sich.

Gibt es eine Chance, dass der Uptis in Serie geht?
Noch dieses Jahr sollen erste Versuche im öffentlichen Straßenverkehr stattfinden. Der Marktstart des Michelin Uptis auf den ersten Pkw-Modellen ist für 2024 geplant.

Die Fragen stellte Guido Reinking

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